von Dr. Stefan Rohr, München (E-Mail: dr.stefan.rohr [at] t-online.de)

Über dem Orange-River geht die Sonne auf. Die roten Berge auf der südafrikanischen Seite des Flusses beginnen zu leuchten. Das Spiel von Licht und Schatten beginnt und ändert sich jeden Augenblick,  wie das Bild in einem Kaleidoskop, das sich langsam dreht.

Das Schilf spiegelt sich im Wasser. Ein Kormoran trocknet sein Gefieder im frühen Sonnenlicht. Es ist kalt. Die Temperaturen in der Nacht fallen nahe an den Gefrierpunkt. Wie mag es den Menschen in ihren Hütten ergehen? Hütten gemacht aus dem Schilf, das am Flussufer wächst. Kein fließendes Wasser, kein Strom. Kinder, spärlich bekleidet, ohne Schuhe. Wie kann man eine solche Nacht überstehen?

Es ist Sonntag Morgen. Um 9:00 Uhr beginnt der Gottesdienst in Aussenkehr. Die Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Eine Kirche aus Wellblech. Ein Holztisch dient als Altar,  ein Christus- und ein Marienbild, einfache Farbkopien in DIN-A4-Format, keine Kirchenglocken, keine Orgel, nur eine Trommel, Gospel-Gesang und tiefe Gläubigkeit. Der Rhythmus der Trommel erfasst die Menschen, lässt sie in den Stuhlreihen tanzen. Sie heben ihr Arme, schwingen sie hin und her. Dazwischen die hohen Triller der Frauen. Die Kinder sind festlich gekleidet, Frauen tragen wunderschöne Kleider, viele Männer Sakko. Wie passt das zusammen mit den einfachen Strohhütten der Stadt?

Am Ende der Messe gibt der Pfarrer einen Spruch für die Woche mit auf den Weg: „Since you can’t escape your heart, listen to it.“ („Da Du Deinem Herzen nicht entfliehen kannst, höre auf Dein Herz“). – Gehe also, wohin Dein Herz Dich trägt. Uns hat es nach Afrika getragen.

Uns, das sind:

  • Katja Piesker, Zahnärztin aus Berlin
  • Anke Kettner, DH und Praxismanagerin aus Berlin
  • Oliver Schulze, Zahntechnikermeister aus Berlin
  • Stefan Rohr, Zahnarzt aus München

Das DWLF Team mit Sr. Curie und Aletta

Vor zwei Jahren brachte Oliver Schulze die Zahntechnik in die Karas-Provinz.

Er organisierte alle Materialien und Geräte und schulte die beiden Zahntechnikerinnen im Krankenhaus Keetmanshoop, sodass sie heute in der Lage sind, selbstständig Prothesen herzustellen.

Die Karas-Provinz ist knapp halb so groß wie Deutschland. Es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel. Nur wenige Menschen haben die Möglichkeit,  das Hospital Keetmanshoop zu erreichen, um Prothesen zu bekommen.

Unsere Vision war es, ein mobiles Zahnlabor aufzubauen, ein Zahnlabor, das die DWLF-Einsatzgruppen von Dorf zu Dorf  begleitet. Es sollte möglich sein,  Prothesen auch in entlegenen Landesteilen, im Outreach,  herzustellen.

Auf der letzten IDS, in Köln, wurde ein Kaltpolimerisat vorgestellt, dass ohne Drucktopf verarbeitet werden kann. Das war für unser Projekt interessant, weil jedes zusätzliche Gewicht ein Handikap ist. Die Erfahrung der beiden Wochen hat gezeigt, dass dieses Polimerisat noch Schwächen hat und wir für den nächsten Einsatz auf den bewährten Drucktopf zurückgreifen werden. Einen kleinen Rüttler und einen leichten Poliermotor erstanden wir bei eBay. Oliver organisierte eine generalüberholte KaVo K10 und ein Noflame-Gerät. Das komplette Labor-Equipment konnte in einer unserer Metalltransportkisten verstaut werden.

Das DWLF  Programm sieht vor, dass wir eine Woche an einem Einsatzort sind und danach für eine weitere Woche zu einem zweiten Ort weiterreisen.

4-5 Tage ist für die Herstellung von Prothesen sehr  knapp bemessen, eine Herausforderung für jeden Zahntechniker. Alle Patienten, die Vollprothesen benötigten, müssen sich am ersten Tag zur Abdruck- und einige Stunden später zur Bißnahme vorstellen, damit die neuen Zähne rechtzeitig zum Ende der Woche fertig werden.

Für Oliver, unseren Zahntechniker aus Berlin, zwischenzeitlich zum dritten Mal mit im Team, war es neues Afrika-Erleben. Bisher arbeitete er im Krankenhaus Keetmanshoop in einem separaten Raum. Diesmal hatte er seinen Arbeitsbereich zwischen unseren Behandlungsstühlen im Dental Camp. Er war mitten drin im Geschehen, mit dabei in den Dörfer aus Strohhütten, dem ursprünglichen Afrika.

Unser erster Einsatzort war KarasburgKarasburg ist eine verschlafene Kleinstadt mit ca 4.300 Einwohnern. Im Hospital bauten wir unser erstes Dental Camp mit Zahnlabor auf. 198 Patienten suchten Hilfe in unserer Station, 19 davon benötigten eine Prothese.

An Donnerstagmorgen besuchten wir im Rahmen des „Smiling School Program“ die Primary School in Lordsville und untersuchten 350 Schüler aus elf Klassen. Leise, mit dem Finger vor dem Mund, warteten die Kinder hintereinander aufgereiht, bis sie an der Reihe waren. 62 von ihnen brauchten eine Behandlung  und kamen am Nachmittag zu uns ins Krankenhaus.

Krankenschwestern aus dem Hospital schauten immer wieder bei uns vorbei.  Sie wollten sehen, was wir machten, fragten interessiert, griffen zum Sauger und assistierten. Unser Apex Locator ist für sie „a miracle“. Ein Kanalinstrument verschwindet im Wurzelkanal und das Gerät zeigt an, wie tief das Instrument im Kanal ist…“magic“.

Es macht Freude, zwischenzeitlich ein breites Behandlungsspektrum anbieten zu können: Vorsorgeuntersuchungen in Schulen, Zahnreinigungen, Mehrschicht-Komposite-Füllungen, Fissuren-Versiegelungen, Wurzelbehandlungen, Zahnextraktionen und kleinen Zahnersatz – und alles mobil.

vorher

nachher

In Karasburg übernachteten wir in den Sunset Chalets. Die Zimmer sind Container, ähnlich den Mobile-Homes aus amerikanischen Filmen. Sie sehen neu aus, jedes Zimmer hat Bad, Dusche, WC und einen BBQ-Grill, der jeden Abend unsere T-Bone Steaks grillte und Lagerfeueratmosphäre und Wärme in die sternenklaren Nächte abstrahlte.

Eine wunderschöne Fahrt auf Schotter und Sand führt uns von der Kalahari durch die Wüste, über wilde Gebirgszüge, vorbei am Fish-River-Canyon nach Aussenkehr.

Aussenkehr ist ein Ort, der vom Anbau von Weintrauben lebt. Plantagen in der Wüste. Das Wasser aus dem Orange-River ermöglicht die Bewässerung der Reben. Unwirkliches Grün in der Wüste. Die Menschen, zur Erntezeit über 30.000, leben in Strohhütten, ohne Strom, ohne Wasser, ohne WC. An vier Stellen im Ort gibt es Trinkwasser. Frauen und Kinder füllen es in große Eimer, hieven diese auf den Kopf und tragen sie in unerschütterlicher Balance zu ihren Hütten.

In Aussenkehr gibt es eine kleine Clinic. Schwester Simbongile aus Simbabwe leitet die Krankenstation und ist für die medizinische Versorgung der Menschen  verantwortlich. Einen Arzt gibt es in Aussenkehr nicht.

Neben der Clinic befindet sich ein aufgelassenes Büro der namibischen Post. Die Räumen standen leer. Ein idealer Platz für unsere Zahnstation.

Am Sonntag Nachmittag kam der Transport mit unseren Geräten und Kisten aus Karasburg an. Wir bauten unsere Zahnstation auf und waren bereit für die zweite Woche.

Unser erster Patient war Josep. Josep kam aus Ariamsvlei, einem Grenzort zu Südafrika, im Osten des Landes. Er hatte keine Zähne mehr und brauchte in Ober- und Unterkiefer eine Prothese. Bereits in Karasburg suchte er uns  auf. Karasburg liegt ca. 100 km von seiner Heimatstadt entfernt. Doch Josep war zu spät. Die Zeit reicht nicht mehr aus, um Totalprothesen für ihn herzustellen. Wir erklärten ihm, wenn er nach Aussenkehr kommen würde, ca. 300 km südlich von Karasburg, wäre er der erste, der Prothesen bekommen würde. 300 km können ohne öffentliche Verkehrsmittel sehr weit sein. Doch Josep hatte es geschafft. Montagmorgen, 8:00 Uhr stand er als erster Patient vor unserem Behandlungsraum. Am Dienstagabend konnte er mit seinen neuen Zähnen lachen und kauen.

Ein Dental-Camp in Aussenkehr bedeutet immer: viele Patienten! Als wir morgens um 8:00 Uhr den Behandlungsraum aufsperrten, warteten bereits über 50-60 Menschen vor der Türe.

Unser Raum hatte kein Licht. Nach Sonnenuntergang huschten die Lichtkegel unserer Stirnlampen durch die Dunkelheit. Sie flogen von der Instrumentenablage zum Mund des Patienten, hielten sich dort fest, sprangen zu den Bohrern und zurück zum Patienten, zuckten zu der Box mit den Kompositen und wieder zurück zum Mund des Patienten. Dazwischen das Dunkelblau der Polimerisationslampen.

vorher

nachher

Auch in Aussenkehr bekamen wir Unterstützung vom einheimischen Personal der Clinic. Brisco, ein 30jähriger Krankenpfleger, war voll konzentriert – auf sein Handy. Eingehende SMS beantwortete er umgehend und stand unseren leichtfüßigen Assistenzen im Weg. Er brauchte einen Job: Wir ernannten ihn zum „Senior-Dental-Assistant“. Er assistierte am Stuhl, hielt Spiegel, Sauger und Polimerisationslampe. Das Zählen der Zähne konnte er rasch umsetzen. Er sprach viele Stammessprachen und übersetzte für uns. Am Ende der Woche bekam er eine meiner weißen Behandlungshosen und ein DWLF Shirt: „Dr. Brisko“ wurde er von da an genannt. Er setzte die Patienten, fragte nach ihren Problemen und sagte mit seiner tiefen Stimme zu mit: „Extraktion 46, Doc“. Sein Handy hing einsam am Ladekabel, es hatte keine Bedeutung mehr für ihn.

vorher

nachher

Wie im Flug verrann die Zeit in der zweiten Woche. Und schon bald hieß es Koffer packen. Es geht nach Hause.

An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Team bedanken und ein herzliches Dankeschön an den namibischen Teil unseres Teams:

  • Dr. Arthur Chigova, der den Einsatz vor Ort, wie immer, perfekt vorbereitete.
  • Sr. Corie Haroldt, Sr. Fabiola und „Dr. Brisco“ für ihre unermüdliche Hilfe.

We say thank you from the bottom of our heart.

Für Katja, zum ersten Mal in Afrika, war es nicht einfach. Sie brachte bereits eine Erkältung aus Europa mit und kämpfte sich tapfer zwei Wochen mit Halsschmerzen und Fieber durch die anstrengenden Tage. Sie hat sich an schwierigen Weisheitszähnen festgebissen und nicht mehr locker gelassen, bis er vor ihr in der Schale lag. Toller Einsatz, Kompliment!

Anke, unsere einzige Assistenz, war der Sonnenschein der Gruppe. Sie behielt immer den Überblick über das Camp und war zur rechten Zeit dort, wo eine – ihre – Hand gebraucht wurde. Eine Assistenz bei einer Ost hier, einen Abdruck ausgießen dort, dazwischen eine Zahnreinigung oder einem ängstlichen Kind die Hand halten. Eine bewundernswerte Leistung. Danke!

Und zum Schluss Oliver, der Technikmagier aus Berlin. Er hat auf kleinstem Raum und ohne Licht in kürzester Zeit Prothesen gezaubert. Alle Prothesen passten auf Anhieb… und die glücklichen Augen der Patienten, wenn sie sich zum ersten Mal mit neuen Zähnen sahen, so emotional, so berührend – unvergesslich! Das war großes Kino. Danke!

Das Aussenkehr-Team

Gedanken zum Schluss:

Unzählige Kinder schenkten uns ihr Lachen. Sie strahlten, wenn sie fotografiert wurden und ihr Bild auf dem Display erschien. Kleine Geschenke, eine Murmel, ein Ring, ein Stofftier, ein Ball ließ ihre Augen leuchten.

Ein Kinderlachen, unbefangen, voll unausgesprochener Hoffnung auf ein Leben in einer Familie, in einer geordneten sozialen Struktur, in Gesundheit und ohne Krankheit, ohne Hunger, ohne Krieg.

Ein Lachen, dass in vielen Fällen enttäuscht wird. Ein früher Tod der Eltern, jahrelange Dürre, Hunger, HIV, TBC und eine sehr eingeschränkte medizinische Versorgung nehmen manchem Kinderlachen seinen Glanz, seine Wärme, seine Herzlichkeit.

Namibia erlebt derzeit eine massive Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Staatliche Budgets für Bildung und Gesundheit wurden erheblich gekürzt. Innerhalb des Gesundheitssektors steht die Zahnmedizin an unterster Stelle. Zahnschmerzen sind nicht lebensbedrohlich. In den Zahnstationen fehlen Füllungsmaterialien und Anästhetikum. Gelder für die Reparatur von zahnärztlichen Einheiten werden vom Ministerium nicht mehr freigegeben.

Zahnärzte ohne Grenzen entsendet nicht nur Zahnärzte, Zahnarzthelferinnen und Zahntechniker, um vor Ort zahnmedizinische Hilfe zu leisten, wir sehen es als unsere Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass die namibischen Zahnärzte ausreichend Material haben, um auch in schwierigen Zeiten arbeiten und die Bevölkerung versorgen zu können. Ca. 130 kg dringend benötigter Hilfsgüter transportierten wir von Deutschland nach Namibia.

Ein Poster, aufgenommen in der Schule in Karasburg

Der Anblick afrikanischer Menschen in Not berührt, macht nachdenklich. Nachdenklich, weil die westlichen Industrienationen mit Milliarden an Entwicklungshilfe zu helfen versuchen und an den Orten, die wir besuchen, über die Jahre keine Veränderungen erkennbar sind. Nachdenklich, weil die Not so viele Gesichter hat. Nachdenklich, weil ich mir trotz der 850 Patienten, die wir in den vergangenen beiden Wochen behandelt haben, hilflos vorkomme. Dennoch es war ein Geschenk, dass ich hier sein durfte, dass ich ein paar Tage meiner Lebenszeit mit diesen Menschen teilen durfte.

Herzlichen Dank an unsere Sponsoren:

  • Air Namibia
  • Kanidenta
  • Komet
  • Henry Schein Berlin und München
  • Zahnfabrik Berlin
  • Meisterschule Berlin/Brandenburg
  • Frank Dental
  • Peppler
  • Dr. Manfred Rohr und Frau Elisabeth Rohr